Werbung neben „Hate Speech“ und Terrorvideos. Und wieso man eigentlich (erstmal) nichts dagegen tun kann.

Ende März machten schlechte Nachrichten die Runde im Netz. AT&T, Verizon, VW und weitere große Unternehmen hatten angekündigt, ihre Werbebudgets bei Google, genauer YouTube, einzufrieren, weil ihre Werbeanzeigen vor Promotionvideos von extremistischen Gruppierungen oder so genannter „Hate Speech“ gezeigt wurden. Verständlich, dass das nicht das Umfeld ist in dem man werben möchte, aber das eigentliche Problem liegt tiefer, beziehungsweise ganz woanders.

Ein Schritt zurück: Die Anfänge des Online-Marketings

Um das zu verstehen, muss man einen Schritt zurück treten und sich an die Anfänge des Online-Marketings erinnern: Auf Webseiten gab es Werbeflächen verschiedenster Arten und Größen (zum Glück sind Pop-Ups tot – dafür haben wir heute modale „Info“boxen, die sich gerne mal über alles und jeden legen :-/ ) und man konnte diese Werbeflächen kaufen.

Das wurde dann wahlweise nach Dauer der Schaltung der Anzeige abgerechnet oder nach Page Impressions, also Aufrufen der Anzeige. Ein simples Verfahren, ziemlich ähnlich dem wie Zeitungsanzeigen auch heute noch funktionieren.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass dieses Vorgehen seine Schwächen hat.

Man musste relevante Webseiten finden, oder zumindest welche die man für relevant hielt, um seine potentiellen Kunden anzusprechen, der Erfolg war schlecht messbar, es wurde gepfuscht und betrogen, „Pay per Click“ als Vergütungsmodell starb infolgedessen fast komplett aus, und so richtig effizient war das nicht.

Man nahm sein Werbebudget und ließ es, wie aus einer Gießkanne, von oben auf das Internet regnen. Manchmal traf es fruchtbaren Boden, oft genug aber auch nicht.

Die Rettung: Retargeting

Der technische Fortschritt der Webtechnologien schien die Rettung zu bringen. Tracking-Pixel oder -Cookies halfen dabei das einzuführen, was heute quasi ein Standard ist: Retargeting.

Als Retargeting […] wird im Online-Marketing ein Verfolgungsverfahren genannt, bei dem Besucher einer Webseite – üblicherweise ein Webshop – markiert und anschließend auf anderen Webseiten mit gezielter Werbung wieder angesprochen werden sollen.

Ziel des Verfahrens ist es, einen Nutzer, der bereits ein Interesse für eine Webseite oder ein Produkt gezeigt hat, erneut mit Werbung für diese Webseite oder ein Produkt zu konfrontieren. Hierdurch soll die Werberelevanz und somit die Klick- und Konversionsrate (z. B. Bestellquote) steigen.

Quelle: Wikipedia – Retargeting

Ein schönes Beispiel ist das Zusammenspiel zwischen Amazon und Facebook. Wer sich einen Artikel auf Amazon (lange genug) anschaut, der findet danach relativ häufig eine Amazon-Werbeanzeige in seinem Facebook-Stream, die genau das zuletzt angesehene Produkt bewirbt.

Über ein ausreichend großes Werbenetzwerk, das mit Tracking-Technologien arbeitet, kann ich also einzelne Nutzer oder zumindest relevante Nutzer- und Kundengruppen identifizieren und diesen gezielt auf verschiedensten Webseiten entsprechende Werbung ausspielen. Damit kann ich die Streuverluste meiner Online-Werbung deutlich reduzieren und zielgruppengerechte Werbung ausspielen.

Ein hohes Maß an „Intelligenz“ im Werbenetzwerk, also möglichst viele erfasste Daten für einzelne Nutzer, hilft dabei, die Werbung gegebenenfalls noch genauer schalten zu können. Ein echtes Plus und ziemlich genau die Technologie (okay, eine von vielen) die man braucht, um effizientes Online-Marketing zu betreiben.

Das Dilemma: Retargeting

Wie alles hat auch Retargeting eine Schattenseite, denn die größte Stärke ist zugleich die größte Schwäche: Die Identifizierung von Nutzern und die automatische Klassifizierung von Inhalten als geeigneter Ort für die Bewerbung eines Produktes.

Die Algorithmen der Werbenetzwerke können bei user-generated content, und dazu zählen natürlich Videos auf YouTube, den Inhalt nicht automatisch einordnen oder erkennen. Was sie aber erkennen können ist, dass eine mehr oder minder große Zahl an identifizierbaren Benutzern diesen Inhalt aufrufen (sei es nun Terrorpropaganda, ein neues Helene Fischer Video oder eine Hassrede). Damit wird er vom Werbenetzwerk als relevanter Platz für Werbung für die Zielgruppe X erkannt und entsprechend ins System integriert.

Wenn ich als Firma nun Zielgruppe X ansprechen möchte, dann schaltet das Werbenetzwerk meine Anzeigen auf den für Zielgruppe X relevant erkannten Werbeplätzen und damit landet meine Werbung, ganz automatisch und ohne böse Absicht, im Vorspann des neuesten Enthauptungsvideos des IS.

Das ist sehr, sehr ungünstig. Zugleich aber auch nichts, was der Werbetreibende hätte beeinflussen können. Und daran wird sich auch in Zukunft nur bedingt etwas ändern, hier sind die Betreiber der Werbenetzwerke gefragt.

Die Rettung, Teil 2: Machine Learning

Was die Betreiber nämlich bereits jetzt machen ist die Klassifikation der Inhalte zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Im Falle von Terrorpropaganda werden dann natürlich Videos gelöscht, bei harmloseren Inhalten wird aber zum Beispiel einfach ergänzt, dass ein Video politische Inhalte behandelt.

Wenn ein Werbetreibender seine Werbung dann nicht in einem politischen Umfeld geschaltet wissen möchte, kann er auswählen, dass Werbeflächen mit dieser Klassfikation nicht für seine Anzeigen genutzt werden sollen.

Google AdSense erlaubt, Anzeigen aus „Sensiblen Kategorien“ zu blockieren.

Dies funktioniert auch anders herum. Nutzer von Google AdSense können beispielsweise auswählen, dass Werbeanzeigen aus „Sensiblen Kategorien“ nicht in ihren Werbeflächen angezeigt werden sollen.

Die Betreiber der Werbenetzwerke haben natürlich ein Interesse an einer möglichst guten Klassifizierung der Werbeflächen, stehen allerdings dem Problem gegenüber, dass sie momentan nicht wirklich hinterherkommen:

In jeder Minute laden Nutzer im Schnitt 400 Stunden Videos auf Youtube hoch. Nach Angaben des Unternehmens werden 98 Prozent der Inhalte innerhalb von 24 Stunden untersucht.

(Aus dem eingangs verlinkten FAZ-Artikel)

YouTube benötigt also für die Nachklassifizierung des Videomaterials einer einzigen Minute bis zu 24 Stunden Bearbeitungszeit. In diesen 24 Stunden kann die Werbung eines Werbetreibenden also schon an einer ungünstigen Stelle ausgeliefert werden und somit einen deutlichen Imageschaden verursachen. Dieses Problem lässt sich nur bedingt durch weitere Mitarbeiter lösen, denn die Menge des hochgeladenen Videomaterials steigt natürlich fortlaufend deutlich an.

Was in Zukunft eine echte Hilfe sein wird, sind Machine Learning-Systeme, also selbstständig lernende Software-Lösungen. Diese werden durch fortlaufendes Training und „Fütterung“ mit Videomaterial in der Lage sein, sowohl den Audio- als auch den Bildinhalt zu erkennen und korrekt einordnen zu können. Damit kann die Klassifizierung direkt nach dem Upload eines Videos erfolgen, die manuelle Arbeit wird deutlich reduziert, vielleicht fällt sie irgendwann komplett weg.

Wann Machine Learning-Systeme solche Aufgaben übernehmen können, dürfte noch in den Sternen stehen. Andererseits sitzt bei Google im Keller vielleicht auch schon ein System, das in diesem Moment alle Katzenvideos auf YouTube anschaut und so auf entsprechendes Bildmaterial trainiert wird.

Bis dahin bleibt das eigentliche Problem bestehen: Wir benötigen Retargeting und ähnliche Technologien um effizientes Online-Marketing betreiben zu können, aber wir geben damit die Kontrolle darüber ab, wo unsere Werbung geschaltet wird und können nicht verhindern, dass sie auch dort geschaltet wird, wo sie nicht auftauchen sollte.

Wie soll man damit umgehen? Ich freue mich über Kommentare und Meinungen!


Über mich

Ich bin gelernter Mediengestalter, studierter Druck- und Medientechniker und leidenschaftlicher Tüftler und Bastler.

Beruflich beschäftige ich mich mit der digitalen Transformation von Unternehmen, sowie der Automatisierung von Unternehmensprozessen, in der Druck- und Medienbranche. Mehr dazu findet sich im Lebenslauf.

Privat interessieren mich Kaffee(maschinen), Themen rund um Webentwicklung, das Internet im Allgemeinen und Speziellen und vieles, vieles mehr.

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